Ich dachte immer, ich sei der schwächere Part in der Beziehung. Bis ich herausfand, dass ich hochsensibel bin, meine Partner aber waren es nicht.
Wie Feuer und Wasser
Kennen Sie das? Ihr Partner möchte nach einem achtstündigen Arbeitstag mit Ihnen ausgehen, Sie sind aber einfach zu müde und hatten schon Mühe ihren acht-Stunden-Tag zu meistern? Ihr Partner hat kein Problem damit, wenn sie sich den ganzen Tag sehen, sie aber brauchen regelmäßig Zeit für sich? Sie grübeln viel darüber, was er jetzt wohl denkt, sind aufnahmefähiger in Hinblick auf seine Stimmungen und haben das Gefühl, dass ihr Partner sich nicht annähernd so viele Gedanken macht, manchmal etwas unsensibel ist? Dann sind sie vielleicht der hochsensible Part in der Beziehung!
Ab wann bin ich hochsensibel?
Der Begriff „Hochsensibilität“ wurde in den 90er Jahren von dem Therapeutenpaar Elaine und Arthur Aron neu definiert, nachdem er bereits in wissenschaftlichen Abhandlungen aufgetaucht und nicht zu letzt immer wieder mit Neurotizismus verwechselt wurde. Es ist eine ererbte Tendenz, alles was die Sinne erfassen, auf sehr feinfühlige und tiefsinnige Weise zu verarbeiten. Das interessante an dem Ansatz des Ehepaares Aron: Er verknüpft bestehende Erkenntnisse zu dem Thema aus dem Bereich Evolutionsforschung mit der heutigen Zeit, denn das Phänomen ist aus der Natur nicht ganz unbekannt. Evolutionsforscher nehmen an, dass sich jede Spezies zu einer idealen Art entwickelte, die sich perfekt an ihre Umgebung anpassen konnte. Doch wenn sich die Umwelt änderte, änderte sich auch das anzustrebende Ideal und die Spezies starb aus. Ganz natürlich entwickelten die meisten Spezies einen besseren Plan für ein Überleben: sie entwickelten zwei Ideale, zwei Temperamente, die gewährleisteten, dass, wenn sich eine Bedingung der Umwelt ändert, zumindest eine Spezies überleben würde. Dieses Temperament knüpfte an die Sensibilität der einzelnen Lebewesen an. Sensible Wesen verarbeiteten Information ganz genau, überprüften, waren weniger impulsiv. Lebewesen, denen dieser Wesenszug fehlte, waren risikofreudiger, waren nicht sensibel. Auch unter den Menschen lassen sich früh diese verschiedenen Temperamente ausmachen; nichtsensible Menschen sind die Macher, die Könige und Krieger. Doch ohne eine sensible Seite, den Berater, wäre die Welt wohl schon längst im Chaos versunken.Sensibilität ist wichtig für das Gleichgewicht! Eine stabilisierende Komponente, die im Gegensatz zu vielen asiatischen Kulturkreisen in unserem westlichen, eher aggressiven Kulturkreisen nicht sehr geschätzt wird. Doch was passiert, wenn sich diese beiden Temperamente in einer Partnerschaft vereinigen?
Ab wann bin ich hochsensibel?
Woher weiß ich, dass ich der hochsensible Part bin? Die Arons (sie ist übrigens hochsensibel, er nicht) entwickelten eine Skala, nach der Menschen unter Beantwortung von Fragen testen können, ob sie zu den 15 bis 20 Prozent der Weltbevölkerung gehören, die mit einem feinfühligen Nervensystem geboren wurden. Zusammenfassend: Highly Sensitive Persons (HSP´s) nehmen aufgrund ihrer Feinfühligkeit Dinge besser wahr, überprüfen Risiken vorsichtig, bevor sie sich neue Dinge trauen, sind von Natur aus sehr intuitiv. Die hohe Neigung zur Reflexion macht uns gewissenhaft und häufig verstehen wir uns ohne Worte mit Kindern, Tieren oder Kranken. Mit Partnern werden wir leichter von Gefühlen überwältigt, bemerken jede Nuance an dem anderen und denken über dessen Reize nach. Ständig und überall brauchen wir neue, auch geistige Stimuli, empfinden tiefer und sind im Vergleich zu nichtsensiblen Menschen hoch emphatisch. Wir träumen lebhafter, weil das Gehirn die Informationen über Nacht schneller verarbeitet und viele von uns haben eine enge Beziehung zu Ihrem Unterbewusstsein, die wir häufig in kreative Arbeit einfliessen lassen.
Die Nachteile
Vor allem in Großstädten sind wir durch die ständige komplexe Stimulation schnell überwältig, brauchen dreimal so viele Pausen wie Nicht-HSP´s. Wir sind ständig bemüht unser körperliches Erregungsniveau in einer optimalen Balance zu halten. Da wir tiefer empfinden, nehmen wir uns Dinge mehr zu Herzen, sind nicht sehr gut im Umgang mit Kritik. Aufgrund der intensiveren Informationsverarbeitung brauchen wir Rückzugsräume, sind in zwischenmenschlichen Beziehungen weniger der aktivere Part. Wenn wir uns nicht regelmäßig mit geistigen Stimuli versorgen, werden wir schnell gelangweilt und langweilen uns auch mit unseren Partnern. Wenn Hochsensibilität in der Kindheit übersehen oder verdrängt wird, sind wir anfälliger für Traumata, die wir selten ohne professionelle Hilfe bewältigen können. Viele HSP´s neigen zu Depressionen oder Angstpersönlichkeiten. Auch unsere Körper sind hochsensibel: nach einem Glas Wein sind wir so betrunken wie nach zehn Wodka-O., wir reagieren auf hitzige, kratzige Stoffe, plagen uns mit Reizmagen und jedes neue Medikament rafft uns für Tage dahin. Nein, hochsensibel zu sein, ist nicht immer angenehm in einer Welt, die für die 80 Prozent gemacht ist, die es nicht sind.
Hochsensibilität in der Partnerschaft
Was passiert, wenn mein Partner nicht hochsensibel ist? Wenn der überwiegende Teil der Welt als nichtsensibel einzustufen ist, ist es sehr viel wahrscheinlicher in einer Beziehung mit einem Nicht-HSPler zu landen. In einer Partnerschaft gesellen sich zu den beiden Temperamenten sensibel oder nichtsensibel auch die verschiedenen Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster beider Partner. Erschwerend kommen auch heute noch geschlechtsspezifische Rollenmodelle und der verdeckte Sexismus in der Kindheit hinzu, mit denen uns vermittelt wird, wie der ideale Mann oder die ideale Frau zu sein hat. Vor diesem Hintergrund passiert es häufig, dass sich HSP´s nicht als den Idealpartner ansehen, sich als den schwächere Part betrachten, während der nicht-HSPler mit den Eigenheiten des anderen überfordert sein kann.
Als hochsensible Frau kämpfte ich in Partnerschaften immer wieder mit dem Drang „normal“ sein zu wollen und meinen nichtsensiblen Partner als das „Ideal“ anzusehen. Ich mimte den Einbeinigen, der versucht in einer Welt von Zweibeinigen zu überleben. Über kurz oder lange machte das mein Körper nicht mit, verlangte Auszeiten und Rückzugsräume. Wegen der fehlenden Kommunikation verstehen nicht-HSP-Partner diese Tendenzen nicht immer, neigen dazu dieses Bedürfnis nach Rückzug persönlich zu nehmen. „Nie redest du mit mir“, „Du schließt mich immer aus“, sind Dinge, die sich jede HSP schon einmal anhören dürfte. Wie viele Frauen wurden im Laufe der Zeit schon einmal von einem nicht sensiblen Partner als neurotisch bezeichnet und dazu aufgefordert, dass sie sich Dinge nicht so zu Herzen nehmen solle. Ganz schleichend tritt in einer solchen Kommunikation die Unterschied im Temperament des Anderen ans Licht.
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Foto: Felix Russell I unsplash