Ich habe meine innere Perfektionistin überlistet – und mir ging es lange nicht so gut!

Viele Jahre hatte ich mit meinem inneren Perfektionisten zu kämpfen. Heute weiß ich: Perfektion ist eine Illusion.

Perfektionismus – ein Laster unserer Gesellschaft ?

Ein halbes Leben hat es gebraucht, bis ich verstand was der Spruch des Künstlers und Komponisten Nam June Paik´s: „When too perfect, lieber Gott böse“, auf der WG-Zimmertür meiner Freundin Katrin bedeuten sollte. Manche Dinge lernt man einfach nicht in der Schule, sondern erst im Leben. Der Umgang mit dem inneren Perfektionisten gehört ganz sicher auch dazu.

Die Neigung nach übertriebener Perfektion zu streben und Fehler möglichst völlig zu vermeiden, hat bisher noch keine einheitliche Definition erfahren. Oft als Kritik benutzt, bezeichnet der Begriff „Perfektionist“ nicht selten eine Person, die sich unnötige und unerreichbare Ziele und Standards für sich und ihre Mitmenschen auferlegt. Der Neurowissenschaftler Raphael M. Bonelli beschreibt Perfektionismus als ein angstvolles Vermeidungsverhalten, bei dem es zum Missverhältnis zwischen „Soll“, „Ist“ und „Muss“ komme. Dabei repräsentiere das „Soll“ das Ideal, das „Ist“ hingegen die persönliche Realität eines Menschen. Eine natürliche Spannung zwischen „Soll“ und „Ist“ ist für einen gesunden Menschen leicht zu ertragen und motiviert ihn dazu, sich weiter zu entwickeln. Ein Perfektionist hingegen erträgt diese Spannung nicht. Für ihn enthält das nie vollständig realisierbare „Soll“ den permanenten Vorwurf, noch nicht perfekt zu sein. Es mutiert zu einem angstauslösenden „Muss“, das seinen Handlungsspielraum und sein Leben stark einschränkt.

Ich bin bekennende Perfektionistin

Auch ich hatte über Jahre damit zu kämpfen, alles perfekt machen zu wollen. Mit Anfang 20 hat mich mein Perfektionismus einen der konservativsten Berufe wählen lassen, einen mit dem ich mich im Hinblick auf all die Dinge, die mir Freude bereiteten, regelrecht kastrierte, weil er mir keine Zeit mehr ließ, meine anderen Talente auszuleben. Auf den Monat genau hatte ich meine nächsten Jahre geplant: Abschluss, Karriere, Kind. Und dann kam alles anders. Mit Anfang 30 schlummerte ein Großteil meiner kreativen Projekte in meiner Schreibtischschublade, weil ich mir einredete, dass ich nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügte, um sie umzusetzen. Bevor ich sie nicht zu 140 Prozent umsetzten konnte, setzte ich sie lieber gar nicht um. Ich redete mir ein, ich wäre glücklich im Schatten anderer und sah dabei mein Potential von Monat zu Monat wegschwimmen. Ja, wenn sich jemand das Wort Perfektion völlig einverleibt hat, dann ich.

Irgendwann zwischen Kindheit und Jetzt haben viele von uns die Erfahrung gemacht, nur Anerkennung zu bekommen, wenn wir gewisse Standards und Erwartungen erfüllen. In perfektionistischen Verhaltensweisen sehen wir den Ausweg, die Anerkennung zu bekommen, die wir uns wünschen, vermeiden Konflikte, wollen uns unangreifbar machen. Wir verwechseln Erfolg mit Akzeptanz und konstruieren uns unsere Welt, wie sie für uns sein soll. Und unser innerer Kritiker ist der Baumeister dieses Trugbildes, immer dabei, bemängelt und triezt er uns permanent aus dem Off. Ein Kampf gegen die Windmühlen unserer Psyche!

Der eigene Perfektionismus ist eine Bürde für andere

Das erste Mal so richtig negativ mit meinem Perfektionismus konfrontiert, war ich, als ich von der Rolle des Verbrauchers und Konsumenten, in die Rolle des Erschaffers, des Produzenten rutschte. Das Privileg zu haben, eigene Ideen in Projekten umsetzen zu können, kann einen bei all den guten Dingen, die man lernt, auch schnell mal zum Diktator werden lassen. Perfektionismus, das ist der Panikmoment, in dem man das Gefühl hat, dass man das Projekt auch in zehn Jahren noch nicht angegangen sein wird oder es nicht so umsetzen kann, wie man es sich vor dem geistigen Auge ursprünglich ausgemalt hat.

Perfektionismus, das ist, wenn wir das Gefühl haben, dass all unsere Ressourcen und unsere Umwelt uns plötzlich so unbedeutend und minimal erscheinen. Das ist, wenn wir uns dabei ertappen, dass wir plötzlich Dinge oder sogar Menschen, die sich nicht mit der gleichen Energie unserer Sache hingeben, als Behinderung sehen. Das ist, wenn wir versuchen zu kontrollieren, was wir nicht kontrollieren können.

Wie erkenne ich, dass ich Perfektionist bin?

Häufig leben wir in unserem Trott aus Alltag, gegebenenfalls Kind und Beruf und wundern uns zeitweise über extreme Stressphasen, die immer dann kommen, wenn man sie so gar nicht braucht. Doch in der Regel machen wir uns den Stress selbst, denn wenn man genau hinsieht, macht sich perfektionistisches Verhalten schon recht früh durch einzelne wiederkehrende Symptome bemerkbar. In der Regel kannst du relativ sicher sein, dass du perfektionistisch veranlagt bist, wenn du regelmäßig:

  1. das Gefühl hast, ein Versager zu sein, wenn du „nur” durchschnittliche Leistungen erbringst
  2. sicherstellen musst, dass du anderen gegenüber eine gute Figur machst
  3. dich selbst dafür verurteilst, dass du kleinste Fehler gemacht hast
  4. Aufgaben ungern abgibst und enttäuscht bist, wenn andere nicht so handeln wie du
  5. dich selbst mit anderen vergleichst
  6.  Aufgaben lieber erst gar nicht anfängst, wenn du sie nur durchschnittlich erledigen könntest (Stichwort: Prokrastination)
  7. Aufgaben nur richtig oder falsch erfüllen kannst
  8. nur die Dinge siehst, die du verbessern würdest, während andere dich für deine Arbeit loben
  9. mehr auf deine Misserfolge schaust, als auf deine Erfolge
  10. zu viele Gedanken über die Lösung der Aufgabe machst, anstatt sie einfach anzugehen
  11. sobald du deine Ziele erreicht hast, diesen Erfolg nicht als besonders empfindest, sondern dir sofort neue Ziele suchen musst, um einen inneren Spannungszustand zu kaschieren (Stichwort: Drang zur Selbstoptimierung)
  12. im Zusammenhang mit diesen Dingen unter körperlicher Anspannung stehst

Perfektionismus kann sich auf viele Bereiche beziehen: Wir haben übertriebene Vorstellungen davon, wie unser Leben sein muss („Mit 30 muss ich Mutter sein“), wie unser Job sein muss („Mit 35 muss ich in leitender Position in einem Unternehmen sein“), in Bezug auf materielle Dinge („Ich muss diese teure neue Küche unbedingt haben“), im Umgang mit Menschen („Ich muss unbedingt noch das andere Tinder-Date am Samstag auschecken, mal sehen was derjenige noch zu bieten hat“), im Hinblick auf unseren Körper, den wir jeden Monat ein bisschen mehr zu kontrollieren versuchen (mit Superfood, zu viel Fitness und Make-up-Tutorials).

Ist Perfektionismus also ein Problem?

Aber heißt das nun, dass ich gleich zum Therapeuten muss, nur weil ich mein Besteck in Restaurants immer symmetrisch anordne? Nein! Wie bei allen anderen Dingen auch, ist das eine Sache der Balance. Perfektionismus hat auch gute Seiten. In einem gesunden Maße spornt er uns an. Viele seiner Facetten wie Organisiertheit und Gewissenhaftigkeit sind in vielen Berufen unerläßliche Voraussetzungen. Hohe Anforderungen an uns selbst zu stellen, läßt uns Bestleistungen erbringen. Aber da, wo Perfektionismus bewußt oder unbewußt ein lebensbestimmendes Muster wird, wenn die Grenze von einem funktionalen gesunden Perfektionsstreben zu einem pathologisch dysfunktionalen Perfektionsstreben überschritten wird, wenn alles, was wir tun, nur noch von außen motiviert und bestimmt wird, ist der Gang zum Therapeuten unumgänglich. Und in der Regel weist uns unser Körper den Weg: Stresssymptome, Burnout, Angststörungen oder substanzielle Abhängigkeiten sind essentielle Begleiterscheinungen eines jeden krankhaften Perfektionisten. Doch wie kommt man aus diesem Teufelskreis aus perfektionistischem Verhalten wieder raus? Jede Veränderung, ob nun mit oder ohne Therapeut, setzt ein Bewusstsein des jeweiligen Musters voraus. Erst wenn ich mir bewußt bin, wie ich in bestimmten Situationen tatsächlich funktioniere, kann ich mich verändern. Und genau so wie man lernen kann positiv zu denken, kann man lernen weniger perfekt zu sein. Und diese zehn Dinge, können dabei helfen.

(Den ganzen Artikel bei EDITION hier lesen.)

Foto: Marivi Pazos I unsplash

Veröffentlicht in: Blog

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